• Otto Weidt –
    Ein stiller Held

„Ich kann erklären, dass ich in meinem Chef und seiner Frau zwei Menschen gefunden habe, die wohl die einzigen in Berlin waren, die ein solches Maß von Hilfe und Vorsorge für meine Glaubensgenossen übernommen haben. In unserem Betrieb waren bis zu 60 und 65 Mann beschäftigt, wovon in den schweren Jahren, das heisst von Anfang 1942 bis Ende 1943, fast immer die Hälfte in schwerer Gefahr schwebte und immer von unserem Chef in einem besonderen Raum des Betriebes bei Haussuchungen versteckt wurden.

Diese Haussuchungen fanden wöchentlich zwei- bis dreimal statt. Herr und Frau Weidt haben, außer dass sie die illegal lebenden Juden versorgten, wöchentlich eine Unzahl von Paketen gepackt und diese in die verschiedensten Konzentrationslager geschickt. Es war gleichgültig, ob es sich um Lebensmittel, Textilwaren, Schuhe, oder andere Hilfsdinge handelte, immer und immer waren es die Weidtschen Eheleute, die sammelten und halfen.

Fast allwöchentlich schickte Herr Weidt besondere Personen nach außerhalb wie Freienwalde, Angermünde, Stettin, um dort Gemüse und Kartoffeln aufzukaufen, um sie ohne jegliches Entgeld an die Verfolgten zu verteilen.

Ich bin stolz, dass ich in diesem Betriebe gearbeitet habe und dadurch Gelegenheit hatte, auch meinen geringen Beitrag zur Hilfe für meine Glaubensgenossen beizutragen. Die vorstehende Erklärung ist mir vorgelesen worden, da ich selbst blind bin und diese von einem Mitglied der Gefolgschaft verfasst wurde.“

Siegbert Lewin hat seit 1941 in der Blindenwerkstatt Otto Weidt gearbeitet. Er ist Jude und nicht deportiert worden, weil er mit einer nichtjüdischen Frau verheiratet ist. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges stellt Otto Weidt einen Antrag auf Anerkennung als „Opfer des Faschismus“. Zu diesem Zweck gibt Siegbert Lewin 1946 diese Erklärung über die Hilfe des Ehepaars Weidt für verfolgte Jüdinnen und Juden ab.

Otto Weidts Arbeiter Siegbert Lewin berichtet nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs über die Hilfe des Ehepaares Weidt für verfolgte Jüdinnen und Juden.

Die jungen
Jahre

Otto Weidt wird 1883 in Rostock geboren und wächst in ärmlichen Verhältnissen auf. Als er fünf Jahre alt ist, zieht die Familie nach Berlin. Nach dem Schulabschluss erlernt er das Handwerk des Malers und Vergolders. Politisch engagiert sich Otto Weidt als junger Mann in der anarchistischen Bewegung.

Anatol Wanderer

Zwischen
den Kriegen

Otto Weidt ist überzeugter Pazifist und kann sich im Ersten Weltkrieg dem Dienst an der Waffe entziehen. Nach seiner Entlassung aus dem Militärdienst arbeitet er als Maler und Tapezierer und gründet 1920 einen Handwerksbetrieb für Innenausbau.

Im Berliner Adressbuch von 1920 wirbt er mit dieser Annonce für seine „Vereinigten Werkstätten”.

Anfang der 1930er Jahre lernt er Else Nast kennen, die er 1936 heiratet. Es ist Otto Weidts dritte Ehe, aus erster Ehe hat er zwei Söhne.

Auf dem Foto sind Else und Otto Weidt im Januar 1947 in Berlin zu sehen. Else Weidt unterstützt ihren Ehemann bei der Hilfe für verfolgte Jüdinnen und Juden.

Blinden-
werkstatt
Otto Weidt

Nach und nach erblindet Otto Weidt fast vollständig. Wie viele Sehbehinderte und Blinde erlernt er das Handwerk des Bürstenmachers und eröffnet 1939 eine eigene Werkstatt zur Herstellung von Bürsten und Besen in Berlin-Kreuzberg. 1940 zieht er mit seinem Betrieb nach Berlin-Mitte in die Rosenthaler Straße 39. Er beschäftigt vor allem blinde und taubstumme Jüdinnen und Juden und hat mehr als 30 Angestellte.

Auf dem Bild ist Otto Weidt mit der Belegschaft der Blindenwerkstatt zu sehen. Es ist 1941 enstanden.

Juden in Berlin
1933-1945

Widerstand
gegen die national-
sozialistische Juden-
verfolgung

Otto Weidt ist ein entschiedener Gegner des Nationalsozialismus. Er behandelt seine jüdischen Angestellten menschlich und tut alles, um sie vor den judenfeindlichen Maßnahmen des Staates zu schützen.

... er wurde Papa Weidt für uns.

Inge Deutschkron

„Wenn man hier hinkam, hier war es friedlich und freundlich, und Otto Weidt kümmerte sich um uns. Und er hörte sich unsere Sorgen an. Und er versuchte, uns zu helfen. Und es war wirklich, man kam hier in eine Oase, es war hier wirklich, wie es eigentlich unter Menschen sein soll. In der Art, wie er uns zur Seite stand, gab er uns ein Stück Selbstachtung zurück. Die Nazis hatten uns von Anfang an durch eine Vielzahl von Verboten und Verordnungen gedemütigt, hatten uns zu Untermenschen erklärt, die wie Insekten vernichtet werden müssten, hatten die Juden entmenschlicht, als sie sie zwangen, bei ungenügender Ernährung Schwerstarbeit zu leisten, mit der steten Todesdrohung im Nacken. Und Weidt – Weidt tat etwas für jene Zeit Unglaubliches: Er behandelte uns wie Menschen, kam uns mit Respekt entgegen, teilte unsere Sorgen und Nöte, sann mit uns über Auswege nach, half uns, uns aufzurichten. Er wurde Papa Weidt für uns.“

Inge Deutschkron berichtet in dem Filmausschnitt über die Atmosphäre in der Blindenwerkstatt. Sie arbeitet dort seit August 1941. 1943 taucht sie unter und überlebt die NS-Verfolgung mit der Unterstützung von Otto Weidt und anderen Helferinnen und Helfern.

Da Otto Weidt mit den in der Werkstatt produzierten Besen und Bürsten auch die Wehrmacht beliefert, gilt die Blindenwerkstatt als „wehrwichtig”. Durch den Verweis auf die „Wehrwichtigkeit“ seiner Produktion und die Bestechung von Gestapo-Beamten kann er seine jüdischen Arbeiterinnen und Arbeiter eine Zeit lang vor der Deportation schützen. Einige beschäftigt er auch illegal und versorgt sie mit gefälschten Papieren.

Dieser gefälschte Werkausweis für Inge Deutschkron aus dem Jahr 1943 ist auf den Namen „Inge Richter“ ausgestellt.

„Ein Möbelwagen fuhr eines Tages in den Hof des Hauses ein. Zwei Gestapo-Beamte sprangen heraus, stürzten die Treppen der Werkstatt hinauf und forderten laut schreiend, dass alle Blinden sich fertig machen sollten, sie würden abgeholt. Die Blinden schienen zunächst wie gelähmt. Dann legten sie, ohne einen Laut, ihre Arbeit nieder, nahmen ihre Sachen, fassten einander an den Händen und gingen tastend und still die Treppen hinunter. Von dem protestierenden Weidt nahmen die Gestapo-Leute keine Notiz, lehnten jedes Gespräch mit ihm ab. Sie hätten nur die Pflicht, die Blinden ins Sammellager zu bringen, sagten sie mürrisch und trieben die Blinden an, schoben sie in den bereitstehenden Möbelwagen und fuhren eiligst mit ihnen davon. Weidt schwieg. Er schien ohnmächtig vor Zorn. Kurz nach der Abfahrt des Möbelwagens stürmte er aus dem Büro, die Blindenbinde am Arm, seinen Stock in der Hand. Er verdankte es ohne Frage der Bestechlichkeit der Gestapo, dass er seine Blinden einige Stunden danach eigenhändig aus dem Sammellager wieder abholen konnte. 'Wie soll ich denn meine Wehrmachtsaufträge ausführen, wenn man mir meine Arbeiter wegnimmt?' sagte Weidt. Doch es war nun wirklich das letzte Mal, dass es Otto Weidt gelang, seine Arbeiter vor den Deportationen zu bewahren.“

Otto Weidt gelingt es sogar, die Freilassung seiner jüdischen Arbeiterinnen und Arbeiter aus dem Deportations-Sammellager in der Großen Hamburger Straße zu erreichen. Inge Deutschkron berichtet in diesem Filmausschnitt darüber.

Verstecke

Als die Bedrohung immer größer wird, sucht Otto Weidt für einige seiner jüdischen Angestellten Verstecke. Eines davon richtet er im hintersten Raum der Blindenwerkstatt ein. Hier taucht die vierköpfige Familie Horn Anfang 1943 unter.

Die Aufnahme zeigt Chaim Horn und seinen Sohn Max 1938 (rechts). Sie gehören zur Belegschaft der Blindenwerkstatt. Von Chaim Horns Ehefrau Machla und ihrer Tochter Ruth ist kein Foto überliefert.

In diesem fensterlosen Raum am Ende der Blindenwerkstatt lebt die Familie Horn neun Monate lang. Der Zugang wird durch einen Schrank mit verschiebbarer Rückwand verstellt. Das Versteck dient vor allem als Schlafplatz, tagsüber arbeiten die Horns in der Werkstatt. Die 360°-Aufnahme zeigt den heutigen Zustand des Raumes im Museum Blindenwerkstatt Otto Weidt.

Im Oktober 1943 wird das Versteck verraten. Die Familie Horn wird von der Gestapo festgenommen, nach Auschwitz-Birkenau deportiert und dort ermordet.

„Die Möglichkeit dieser ganzen Arbeiten bestand darin, dass in dem hinteren Teil meines Betriebes ein Zimmer war, das fensterlos, und daher von aussen nicht sichtbar war. Vor die Tür dieses Zimmers war ein 2,20 m breiter Schrank gezogen, der eine verschiebbare Rückwand hatte.

Sobald sich im Büro die Gestapo meldete und ich an das Schalterfenster geholt wurde, setzte ich einen Klingelknopf in Bewegung und ein dreimaliges Läutezeichen war für den hinteren stets verschlossenen Betrieb ein Alarmsignal, um hinter den Schrank zu verschwinden und die Rückwand im Schrank, der stets voller Sachen hing, wieder ordnungsgemäss zusammenzuschieben. Daher waren stets alle Haussuchungen ergebnislos [...].

Am 15. Oktober 1943 aber schlug auch für uns der hörbare Ton der Glocke des Verrats."

In einem Brief an die Zeitschrift „Der Aufbau“ beschreibt Otto Weidt 1947, wie er die Familie Horn und weitere jüdische Arbeiterinnen und Arbeiter in dem Raum versteckt hat.

Auch für andere Verfolgte organisiert Otto Weidt Verstecke, Verpflegung und falsche Papiere. Dabei ist er auf die Unterstützung und Hilfe von Menschen aus seinem Umfeld angewiesen. Das Video stellt das Netzwerk der Helferinnen und Helfer um Otto Weidt vor.

Das Netzwerk um Otto Weidt

Mehrere Menschen können mit Hilfe des Netzwerkes um Otto Weidt die nationalsozialistische Judenverfolgung überleben. Doch nicht alle Rettungsversuche glücken. Die beiden folgenden Videos zeigen geglückte Rettungen durch Otto Weidt und sein Helfer-Netzwerk und Rettungen, die gescheitert sind.

Geglückte Rettungen

Gescheiterte Rettungen

Otto Weidt Kartoffel-Großhandel

Ende 1943 kann Otto Weidt die Deportation der meisten seiner jüdischen Arbeiterinnen und Arbeiter nicht mehr verhindern. Er lässt sich jedoch nicht entmutigen und schickt ihnen mit Unterstützung einiger Helferinnen und Helfer mehr als 150 Lebensmittelpakete in das Ghetto Theresienstadt. Weder die Lebensmittelrationierung noch die hohen Schwarzmarktpreise oder die Beschränkungen des Postverkehrs halten ihn davon ab.

Otto Weidts Sekretärin und Vertraute Alice Licht und ihre Eltern Georg und Käthe erhalten im Ghetto Theresienstadt zahlreiche Pakete von Otto Weidt. Mit dieser vorgedruckten Postkarte bedankt sich Georg Licht für die erste Sendung. Der Adresszusatz „Kartoffel-Großhandel“ ist ein versteckter Hinweis, mit dem er die Zensur umgeht. Otto Weidt weiß nun, dass Kartoffeln im Ghetto besonders dringend gebraucht werden.

Alle Schützlinge Otto Weidts werden bis zum Herbst 1944 von Theresienstadt in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert. Von den 19 bekannten Empfängern seiner Pakete überleben nur Alice Licht und zwei weitere die Haft. Auch ihre Eltern werden dort ermordet.

Das Ghetto Theresienstadt

Bis Kriegsende arbeiten in der Blindenwerkstatt nur noch wenige Beschäftigte. Es sind vor allem Juden, die mit Nichtjuden verheiratet sind. Obwohl Otto Weidt mehrfach von der Gestapo festgesetzt und vernommen wird, bleiben seine umfangreichen Widerstandsaktivitäten gegen die nationalsozialistische Judenverfolgung unentdeckt.

Otto Weidt
und die
Blinden-
werkstatt
nach 1945

... wir haben auch in der Nachkriegszeit nicht geschlafen.

Otto Weidt

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs unterstützt Otto Weidt den Aufbau eines jüdischen Kinder- und Altersheimes in Berlin-Niederschönhausen, um Waisenkindern und älteren Menschen, die der nationalsozialistischen Judenverfolgung entkommen sind, zu helfen.

Wir haben den Kindern ein kleines Paradies und den Alten, die als Strandgut aus den KZ-Lagern wieder an das Ufer des Lebens geworfen wurden, ein behagliches Dasein errichten können.

Otto Weidt

Die Aufnahme des Jüdischen Kinderheims Niederschönhausen ist am 15. September 1947 während des Jüdischen Neujahrsfestes entstanden. Else Weidt ist in der Bildmitte zu sehen, Otto Weidt steht in der letzten Reihe.

Das Foto vom selben Tag zeigt Else und Otto Weidt mit Bewohnerinnen und Bewohnern des Jüdischen Altersheims Niederschönhausen.

Darin heißt es: „Das, was ich jetzt zu tun gedenke, und wozu ich die Hilfe des ‚Aufbau' oder die Freunde des ‚Aufbau‘s' benötige, ist:
In Berlin auf einen öffentlichen Platz, ich nehme als Beispiel das Bayerische Viertel, weil es das Judenviertel genannt wurde. Ein Mahnmal für die Millionen geopferten Juden errichten […]. Nicht ein Ehrenmal, das in der Stille des abseits gelegenen Friedhofs errichtet wird und uns erinnert, dass wir ehrend der Toten gedenken sollen, die sind sowieso bei uns nicht vergessen. Sondern ein Mahnmal, das die arische Welt daran erinnern soll, und ständig erinnern soll, dass Millionen rassisch verfolgte Menschen in den KZ-Lagern verbrannt und gefoltert wurden."

Otto Weidt ergreift auch die Initiative zur Errichtung eines Mahnmals, das an die ermordeten Jüdinnen und Juden erinnern soll.

In einem Brief an die Zeitschrift „Der Aufbau“ vom 21. Oktober 1947 bittet er dafür, wie auch für das Heim in Berlin-Niederschönhausen, um Spenden.

Das Projekt kann er nicht mehr realisieren. Im Dezember 1947 stirbt Otto Weidt im Alter von 64 Jahren.

„Gerechter unter den Völkern“

Otto Weidt wird 1946 als „Opfer des Faschismus“ anerkannt. Nach seinem Tod wird Else Weidt 1950 dieser Status als Hinterbliebene aberkannt. In den Jahren 1956 bis 1963 werden auf Betreiben des Berliner Innensenators Joachim Lipschitz 738 Berlinerinnen und Berliner geehrt, die jüdischen Verfolgten uneigennützig Hilfe gewährt haben – eine Ausnahme in dieser Zeit. Unter den Geehrten ist auch Else Weidt.

1971 wird Otto Weidt postum durch die israelische Gedenkstätte Yad Vashem als „Gerechter unter den Völkern“ ausgezeichnet. Auf dem Foto nimmt Else Weidt ein Jahr später in Berlin die Urkunde entgegen.

Das Museum Blinden-
werkstatt
Otto Weidt

In den 1990er Jahren stehen die Räume der ehemaligen Blindenwerkstatt leer. 1999 erzählt dort erstmals eine Ausstellung die Geschichte von Otto Weidt und seinen jüdischen Arbeiterinnen und Arbeitern.

Das Foto mit der Fassade der Rosenthaler Straße 39 vermittelt einen Eindruck vom Zustand des Hauses im Jahr 1989.

Heute erinnert das Museum Blindenwerkstatt Otto Weidt am historischen Ort an die Bemühungen des Kleinfabrikanten, seine jüdischen Beschäftigten vor Verfolgung und Deportation zu schützen. Inge Deutschkron war maßgeblich an der Entstehung des Museums beteiligt.

Die Aufnahme zeigt einen Blick in die Ausstellung aus dem Jahr 2007.