• Edith Wolff und
    Jizchak Schwersenz –
    Pioniere im
    Untergrund

“Ich lebte ein halbes Jahr lang alleine untergetaucht, mal dort, mal da, mit wechselnden Verstecken, Nachtquartieren, bis wir am 27. Februar 1943 die versteckte Gruppe gründeten. Eine Jugendgruppe im Herzen des Dritten Reiches hier in Berlin, eine einmalige Gruppe, im gesamten von Deutschland eroberten Europa […].“

Jizchak Schwersenz gründet 1943 mit Edith Wolff die bisher einzige bekannte zionistische Untergrundgruppe in Deutschland. In diesem Interview-Ausschnitt berichtet er davon.

Edith Wolff

Edith Wolff, um 1938

Edith Wolff, genannt Ewo, wird 1904 in Berlin geboren. Ihr Vater kommt aus einer jüdischen Familie, ihre Mutter aus einer christlichen. Aus Protest gegen die nationalsozialistische Judenverfolgung bekennt sich Edith Wolff 1933 zum jüdischen Glauben und beginnt mit der Verbreitung anonymer Briefe, Postkarten und Klebezettel.

Vorsicht Gift!

“Es blieb mir […] nichts weiter übrig, als durch Einzelhandlungen gegen das verhaßte ‚Dritte Reich‘ vorzugehen, – wobei ich mich natürlich nur auf gelegentliche ‚Nadelstiche‘ beschränken konnte. […] So pflegte ich in Katalogen und Bücherverzeichnissen […] öffentlicher Bibliotheken […] jene Stellen, wo das Kampf-Buch von Hitler und andere national-sozialistische Literatur […] angeführt war, mit beschrifteten Zetteln zu bekleben. Von einer Apotheke hatte ich Etiquetten für Medizin-Flaschen erhalten mit der gedruckten Aufschrift ‚Vorsicht – Gift!‘, welche ich zur Kennzeichnung und Charakterisierung dieser politischen Schund-Literatur darüber- oder daneben-klebte. Ab und zu habe ich mir solche Bücher auch ausgeliehen, um sie dann mit kritischen Marginalien und polemischen Randglossen wieder zurückzugeben.

Oder wenn von Seiten der Nazis besondere Aktionen gegen die Juden gestartet wurden, so pflegte ich mit der Schreibmaschine getippte Zettel in mehrfachen Copien an national-sozialistische Zentralstellen, Ämter und Behörden zu versenden […].

Oft warf ich solche beschrifteten Karten oder Zettel mit der bloßen Adressierung ‚An das deutsche Volk‘ auch einfach in verschiedene Post-Briefkästen.“

Edith Wolff berichtet über ihre ersten Widerstandsaktivitäten.

Edith Wolff gilt nach den Nürnberger „Rassengesetzen“ von 1935 als „Mischling 1. Grades“. Obwohl sie selbst gefährdet ist, engagiert sie sich in einer jüdischen Hilfsorganisation. Dort lernt sie Jizchak Schwersenz kennen. Die beiden werden enge Freunde.

Jizchak Schwersenz

Auf dem Foto ist Jizchak Schwersenz 1932 im Alter von 17 Jahren zu sehen. Er trägt das Halstuch der jüdischen Pfadfinder.

Jizchak Schwersenz wird 1915 in Berlin in eine jüdische Familie geboren. Schon früh schließt er sich jüdischen Jugendorganisationen an. Nach 1933 engagiert er sich in der jüdischen Jugend-Alijah. Die Organisation bereitet junge Jüdinnen und Juden auf ein Leben in Palästina vor. 1939 beendet er seine Ausbildung als Lehrer und wird Leiter der Jugend-Alijah-Schule in Berlin.

Die Aufnahme zeigt Jizchak Schwersenz 1940 mit einer Gruppe der Schule.

Nach der Auflösung der Schule durch die Nationalsozialisten setzt Jizchak Schwersenz trotz des Verbots den Unterricht für eine kleine Gruppe von Schülerinnen und Schülern fort, die in einer Gartenbauschule am Berliner Wannsee Zwangsarbeit leisten müssen.

Die heimliche Arbeitsgruppe besteht bis zum Sommer 1942. Das Foto stammt aus dem Juni des Jahres.

Auch Jizchak Schwersenz wird zur Zwangsarbeit verpflichtet. Er liefert das Essen der Großküche der jüdischen Gemeinde aus.

Auf dem Foto ist Jizchak Schwersenz im Frühjahr 1942 im Hof der jüdischen Großküche in Berlin zu sehen.

„… jetzt heißt es, nur noch zu handeln“

Edith Wolff, um 1945

Edith Wolff erfährt im Herbst 1941 von den ersten Deportationen aus Berlin. Sie sucht nach illegalen Fluchtmöglichkeiten. Doch ihre Bemühungen scheitern. Nun versucht sie, Verfolgte zur Flucht in den Untergrund zu bewegen. Später berichtet sie davon:

Nach Berlin zurückgekommen, sah ich nach alledem meine Aufgabe jetzt nur noch darin, den Juden, die sich retten und retten lassen wollten, die Emigration in den luftleeren Raum zu empfehlen, mit anderen Worten — den illegalen Weg des Untertauchens und Sich-verborgen-Haltens. Wir anderen aber, so fand ich, hatten alles zu tun, um ihnen den Weg zu bahnen und Möglichkeiten zu schaffen, das illegale Leben zu erleichtern.

Dann beginnt sie, Quartiere, Lebensmittel und falsche Papiere zu organisieren, um untergetauchten Jüdinnen und Juden zu helfen.

„Nicht mitgehen, sondern weggehen“

Im August 1942 droht auch Jizchak Schwersenz die Deportation. Edith Wolff kann ihn davon überzeugen unterzutauchen. Die Entscheidung fällt Jizchak Schwersenz nicht leicht. Er schreibt später in einem Erinnerungsbericht:

Ausschlag­­gebend war am Ende der Gedanke, dass wir so gemeinsam versuchen könnten, Kinder zu retten.

Edith Wolff versteckt ihn zunächst in der Wohnung, in der sie mit ihren Eltern lebt. Dann hilft sie bei der Suche nach neuen Quartieren und besorgt ihm falsche Papiere. Für eineinhalb Jahre lebt Jizchak Schwersenz unter verschiedenen falschen Namen im Untergrund.

Das Passfoto verwendet Jizchak Schwersenz für einen gefälschten Ausweis, mit dem er sich als Ernst Hallermann ausgibt.

„Ich lebte illegal, ‚untergetaucht‘, in Berlin vom 28.8.42 bis 13.2.44, an welchem Tag ich mich durch Flucht in die Schweiz dem unerträglichen illegalen Leben entzog. In jener Zeit erhielt ich Nachtquartier in verschiedenen Abständen, manchmal eine Nacht, manchmal einige Nächte aufeinanderfolgend oder nach einer gewissen Zeit wiederum eine Nacht […]. Leider musste ich viele Nächte ohne Quartier auf der Strasse, in Verkehrsmitteln oder im Wald (Grunewald) verbringen. […] Meine Haupthelferin in der illegalen Zeit bis zu deren Verhaftung am 19.6.43 durch die Gestapo war Frl. Edith Wolff […]. Sie bereitete meine Illegalität vor, gab mir Ratschläge, half bei der Beschaffung der Quartiere, von Lebensmitteln und falschen Papieren für mich […]. Ich wohnte in der Wohnung ihrer Eltern vom ersten Tag der Illegalität an etwa drei Wochen und später immer wieder einmal, nahm ferner häufig dort Mahlzeiten ein und wurde während einer Krankheit von ihr aufgenommen und verpflegt.“

Jizchak Schwersenz berichtet 1956 in einer eidesstattlichen Erklärung über sein Leben im Untergrund und die Hilfe von Edith Wolff.

Chug Chaluzi – „Pionierkreis“

Edith Wolff und Jizchak Schwersenz im Frühjahr 1943

Im Februar 1943 bauen Edith Wolff und Jizchak Schwersenz im Untergrund die zionistische Jugendgruppe Chug Chaluzi („Pionierkreis“) auf. Zum Kern der Gruppe gehören etwa zehn untergetauchte jüdische Jugendliche.

„Die Wohnung Ewos wurde am 27. Februar 1943 zum Fluchtpunkt für viele unserer Kinder. Es war der Tag der sogenannten ‚Fabrik-Aktion', an dem die noch in Berlin lebenden Juden völlig unvorbereitet in ihren Arbeitsstätten und Wohnungen zusammengetrieben wurden und, auf Lastwagen gepfercht, zur letzten und brutalsten Massendeportation „abgeholt“ wurden. Ich sah die Gestapo-Autos, die verzweifelten Menschen. Ich wußte, nun kommt auch der Vater nicht mehr zurück.

Ewo und ich hatten die Kinder schon vor meinem Untertauchen auf diese ‚Stunde X' vorbereitet, auf den Augenblick, in dem es keinen Ausweg mehr gab. Wir wußten nicht, wie das aussehen würde, aber wir hatten ihnen auf unseren Zusammenkünften immer gesagt: Wenn eine Stunde kommt, wo alles verloren ist, wo ihr dann ohnehin nicht mehr bei den Eltern bleiben könnt, dann müßt ihr versuchen euch zu retten, dann kommt zu Ewo, kommt dorthin in der Dunkelheit, da seid ihr sicher – und in der Tat, an diesem Abend trafen eine Reihe unserer früheren Schüler, unsere Mädchen und Jungen aus dem Bund bei Ewo ein. Es war ihnen gelungen, von den Lastwagen abzuspringen, sich zu verstecken oder über die Dächer zu fliehen, als sie die Gestapo-Autos auf der Straße sahen. Sie hatten nicht viel Zeit zum Überlegen, es geschah alles sehr plötzlich. Aber sie hatten einen starken Lebenswillen, und sie wußten: Das ist jetzt der Augenblick.

Auch diese Kinder durfte es nun offiziell nicht mehr geben. Die Eltern waren fort, bestenfalls gab es noch einen Bruder oder eine Schwester, die sich ebenfalls hatten retten können. Und es gab uns, die Übriggebliebenen, die Flüchtigen. In dieser Situation gründeten wir die illegale Jugendgruppe 'Chug Chaluzi' […].“

Jizchak Schwersenz berichtet, wie er mit Edith Wolff, die von allen Ewo genannt wird, die Gruppe gründet.

Edith Wolff und Jizchak Schwersenz versammeln schließlich 40 Kinder und Jugendliche aus verschiedenen jüdischen Jugendbünden um sich.

Einige sind auf dem Foto zu sehen, das am jüdischen Feiertag Schawuot im Juni 1943 im Versteck entstanden ist. Es zeigt von links: Gad Beck, Jizchak Schwersenz, fast völlig verdeckt Edith Wolff, Zvi Aviram, Leopold Chones, David Billard und Miriam Beck.

Die Mitglieder der Untergrundgruppe eint der Wille, sich der nationalsozialistischen Judenverfolgung zu widersetzen, „durchzuhalten“ und später gemeinsam nach Palästina auszuwandern. Von dieser ersten Phase des Chug Chaluzi erzählt das Video.

Chug Chaluzi – Von der Gründung bis zur Flucht

Haft oder Untertauchen?

Im Sommer 1943 wird Edith Wolff zur Gestapo vorgeladen. Sie entschließt sich, der Vorladung zu folgen. Einige Mitglieder der Gruppe begleiten sie bis zum Gestapo-Gebäude in der Berliner Burgstraße.

Das Foto zeigt die Burgstraße 1935. Im Haus Nr. 28 in der Bildmitte ist von 1941 bis 1943 das „Judenreferat“ der Staatspolizeileitstelle Berlin der Gestapo untergebracht. Es organisiert auch die Deportation der Berliner Jüdinnen und Juden.

„Ich aber, je länger wir überlegten, kam mehr und mehr zu dem Entschluß, den Weg zur Burgstraße anzutreten. […] Und ich weiß noch heute ganz genau, welches damals die einzelnen Beweggründe für meine Entscheidung gewesen sind:

Ich wollte unsere Jugendgruppe und die illegalen Jugendlichen, die ich bisher als Helferin betreuen konnte, nicht dadurch noch belasten, daß ich nunmehr – als Selber-Illegale – ebenfalls auf Betreuung angewiesen war.

Ich wollte auch wegen meiner Mutter nicht untertauchen, weil die Gestapo sie möglicherweise – als Geisel für mich selbst – in Sippenhaft genommen […] hätte. […]

Ich wollte außerdem bei der Gestapo herausbekommen, an welcher Stelle unsere illegale Arbeit ein Loch bekommen hatte […]. Ich wollte sicher sein, daß man meiner eigentlichen Arbeit für die Jugendgruppe n i c h t  auf die Spur gekommen und die Jugendgruppe selber nicht gefährdet sei. Es war dann in der Tat genau so, wie ich gehofft hatte. Nur das geringfügige Delikt mit der Übersendung von Lebensmittelkarten nach Mannheim hatte zu meiner Verhaftung geführt, während ich doch in Wahrheit viel gravierender gearbeitet hatte.“

Edith Wolff berichtet später über ihre Gründe, selbst nicht unterzutauchen.

Bei den Vernehmungen kann Edith Wolff ihre Verbindungen zu untergetauchten Jüdinnen und Juden verbergen. Doch wegen der Weitergabe von Lebensmittelkarten wird sie am 11. Januar 1944 von einem Berliner Sondergericht zu zwei Jahren Zuchthaus verurteilt. Sie überlebt die Haft in vielen verschiedenen Konzentrationslagern und Gefängnissen.

Flucht in die Schweiz

Im Februar 1944 gelingt Jizchak Schwersenz die Flucht in die Schweiz: Er tarnt sich mit Wehrmachtuniform und falschen Papieren als Offizier und erreicht nach einer gefährlichen Zugfahrt die grenznahe Stadt Singen. Von dort weisen ihm Fluchthelfer nachts den Weg an die Grenze.

Nach dem illegalen Überschreiten der Schweizer Grenze wird Jizchak Schwersenz zunächst festgenommen. Das Foto ist von der Polizei in Schaffhausen aufgenommen worden.

Nach seiner geglückten Flucht nimmt Jizchak Schwersenz Kontakt zur zionistischen Organisation Hechaluz in Genf auf. Dadurch verändern sich die Bedingungen für die Untergrundgruppe in Berlin. Sie erhält jetzt auch Unterstützung aus der Schweiz. Die Geschichte des Chug Chaluzi in dieser Zeit schildert das Video.

Chug Chaluzi – Von der Flucht bis zum Kriegsende

Die meisten Untergetauchten aus der Gruppe können die nationalsozialistische Verfolgung und das Kriegsende überleben. Dies verdanken sie auch den mutigen Helferinnen und Helfern, die sie auf vielfältige Weise unterstützt haben. Das Video stellt das Netzwerk der Helferinnen und Helfer um Edith Wolff und Jizchak Schwersenz vor.

Helferinnen und Helfer

Nach Kriegsende

Edith Wolff und Jizchak Schwersenz in Haifa, 1955

Edith Wolff und Jizchak Schwersenz treffen sich 1950 in der Schweiz wieder und wandern wenige Jahre später nach Israel aus. Edith Wolff arbeitet unter anderem in der Gedenkstätte Yad Vashem und engagiert sich für die jüdisch-arabische Verständigung. Sie stirbt 1997 in Haifa.

Edith Wolff und Jizchak Schwersenz 1982 in Haifa

Jizchak Schwersenz arbeitet in Haifa als Lehrer. Auf Einladung der Berliner Landesregierung reist er 1979 zum ersten Mal wieder in seine Heimatstadt. Er beginnt, in Deutschland Vorträge über die Zeit der Verfolgung zu halten, und zieht 1991 zurück nach Berlin. Hier stirbt Jizchak Schwersenz 2005.

Das Foto zeigt Jizchak Schwersenz ein Jahr vor seinem Tod bei der Einweihung einer Gedenktafel für Edith Wolff. Sie wird aus Anlass ihres 100. Geburtstags an ihrem ehemaligen Wohnhaus in der Bundesallee 79 angebracht.