• Mildred Harnack
    und die
    Rote Kapelle

Und ich habe Deutschland so geliebt

Mildred Harnack im Sommer 1936 in Berlin

„Sie war für mich mit ihren schönen blonden, straff zurückgekämmten Haaren, ihren klaren, nichts zurückhaltenden Augen der Inbegriff der puritanisch-strengen Amerikanerin, die unter der Devise ‚high thinking and plain living‘ lebte. Sie gehörte zu der Generation studierter Frauen, die an den Fortschritt und an die Besserung der Welt glaubten und selbst in geistiger Arbeit an diesem Aufstieg mitarbeiten wollten.

Sie war nicht ohne Ehrgeiz, aber er galt nicht der eigenen Person. Zur Zeit, als sie studierte, wurde in Amerika ganz allgemein die Linke als die Trägerin des aufgeklärten Fortschritts angesehen; die Intellektuellen waren ‚rosa‘, wenn nicht ‚rot‘, was nicht mit kommunistisch gleichzusetzen war [...]."

Die Publizistin Margret Boveri erinnert sich an Mildred Harnack.

Eine Jugend
in Amerika

Das Familienfoto, das 1903 aufgenommen wird, zeigt Mildred Fish (im Kinderwagen) mit ihren Eltern und ihren drei Geschwistern.

Mildred Fish wird 1902 in Milwaukee im US-Bundesstaat Wisconsin geboren. Viele Einwohner ihrer Heimatstadt sind deutscher Abstammung, weshalb Milwaukee auch als das „Deutsch-Athen von Amerika“ gilt. Obwohl die Familie in bescheidenen finanziellen Verhältnissen lebt, erhält Mildred Fish eine gute Ausbildung.

Das Foto zeigt Mildred Fish als 14-Jährige.

Begegnung mit
Arvid Harnack

Mildred Fish studiert englische Philologie und Literaturgeschichte und lehrt seit 1926 an der Universität Wisconsin-Madison Literaturwissenschaft.

Mildred Fish als Dozentin in Madison, um 1926

Dort lernt sie 1926 Arvid Harnack kennen, als er irrtümlich in eine ihrer Vorlesungen gerät. Der 25-jährige Jurist stammt aus einer Gelehrtenfamilie und ist nach seiner Promotion mit einem Stipendium von Deutschland an die Universität gekommen.

Arvid Harnack, 1927 am Mendota-See in Wisconsin

Im Juni schreibt er an seine Mutter:

Mir geht es ausgezeichnet. Ich habe mich verlobt. Die Sache ist insofern höchst komisch, da ich kaum englisch und Mildred nicht deutsch kann. Entschieden war die Sache als ich sie das zweite Mal sah, geregelt ist die Sache seit gestern.

„Ich kann Ihnen mit Worten nicht sagen, wie glücklich ich bin, Mildred kennen gelernt zu haben. […] Mildred ist in ihrem tiefsten Wesen so fein und zart, daß ich nicht anders als gut sein kann, wenn ich mit ihr zusammen bin. Ich glaube auch, daß sie gut in meine Familie passt, denn sie gleicht sehr einer meiner Schwestern und meinem verstorbenen Vater.

Es ist nötig, daß ich Ihnen etwas über meine persönlichen Verhältnisse schreibe. Meine Familie ist die deutschbaltische Gelehrtenfamilie Harnack. Mein Vater ist der verstorbene Literarhistoriker Otto Harnack, mein Onkel der auch in Amerika bekannte Kirchenhistoriker Adolf Harnack.

Ich selbst bin Doktor der Rechte der Universität Jena und befinde mich als Referendar im Justizdienst des Deutschen Reiches. Hier in Amerika studiere ich als Inhaber einer der 4 deutschen Rockefellerscholarships die Arbeiterfrage und das Federalreservebanksystem.

Nach meiner Rückkehr nach Deutschland hoffe ich im Deutschen Arbeitsministerium mit internationalen Arbeiterfragen beschäftigt zu werden.“

Kurz darauf hält Arvid Harnack in einem Brief bei Mildreds Mutter um ihre Hand an. Darin fasst er auch seinen familiären und beruflichen Hintergrund zusammen.

Im August 1926 heiraten sie. 1929 folgt Mildred Harnack ihrem Mann als Stipendiatin des Deutschen Akademischen Austauschdienstes nach Deutschland.

Auf dem Foto ist das Ehepaar 1930 in Saalfeld zu sehen.

Jena, Gießen,
Berlin

Ihr erstes Jahr in Deutschland verbringt Mildred Harnack in Jena. Hier lernt sie Arvids Familie kennen und bereitet zunächst an der Universität Jena, dann in Gießen, ihre Dissertation vor.

Auf dem Familienfoto, das im Herbst 1929 in Jena aufgenommen wird, ist Mildred Harnack als Dritte, Arvid Harnack als Erster von rechts zu sehen.

„Oben erwähnte Bewegung nennt sich National-Sozialisten, obwohl das Programm absolut nichts mit Sozialismus gemein hat. Allein schon der Name ist eine Lüge. Sie hält sich moralisch überlegen und führt, wie der Ku Klux Klan, eine Hasskampagne gegen die Juden. […] Falls es den ‚National-Sozialisten‘ gelingt, eine Diktatur zu errichten, wird es großen Aufruhr geben, [...]“

Mit Besorgnis verfolgt Mildred Harnack das Erstarken der Nationalsozialisten. In einem Brief an ihre Mutter schreibt sie im Oktober 1930 über die politische Situation in Deutschland.

Im Winter 1930 zieht das Ehepaar nach Berlin. Im folgenden Jahr wird Mildred Harnack als erste Amerikanerin Lektorin an der Berliner Universität, wo sie bis 1932 lehrt.

Auf dem Porträtfoto ist Mildred Harnack 1931 zu sehen.

Wie ihr Mann Arvid verfolgt auch Mildred Harnack die Entwicklung in der Sowjetunion hoffnungsvoll und unternimmt im Sommer 1932 eine Reise nach Moskau und Leningrad. Dabei entsteht dieses Gruppenfoto.

Nach ihrer Rückkehr unterrichtet Mildred Harnack als Lehrerin für englische Literatur und Literaturgeschichte am Berliner Städtischen Abendgymnasium. Mit ihrem Leben in Deutschland ist sie zufrieden: „Life is good“, schreibt sie ihrer Mutter am 29. Januar 1933, dem Tag vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten.

Im
Widerstand

Bereits 1933 beginnen Arvid und Mildred Harnack in privatem Kreis illegale Schulungskurse, bei denen Grundfragen der politischen, wissenschaftlichen und künstlerischen Entwicklung diskutiert werden. Anliegen der Harnacks ist es, Gleichgesinnte auf eine Neuordnung Deutschlands nach dem Ende des Nationalsozialismus vorzubereiten. Die Bildergalerie zeigt einige der Beteiligten.

Adam und Greta Kuckhoff sind enge Freunde der Harnacks. Auf dem Foto von 1935 ist Greta Kuckhoff als Zweite von links, Adam Kuckhoff als Zweiter von rechts abgebildet.

Im Sommer 1933 wird William Dodd als Botschafter der USA in Deutschland eingesetzt. Mit ihm kommt auch seine Tochter Martha nach Berlin. Zwischen ihr und Mildred Harnack entwickelt sich eine enge Arbeitsbeziehung und Freundschaft.

Das um 1935 aufgenommene Foto von Martha Dodd mit Arvid und Mildred Harnack gibt einen Eindruck davon.

Mildred Harnack nutzt ihre guten Beziehungen zur amerikanischen Botschaft, um Informationen zu erhalten und an Gleichgesinnte weiterzugeben. Verfolgten kann sie durch die Beschaffung von Einreisevisa in die USA helfen. Sie unterstützt die illegale Arbeit ihres Mannes und knüpft Kontakte zu Frauen und Männern, die dem NS-Regime gegenüber kritisch oder oppositionell eingestellt sind. Einige von ihnen kann sie für Widerstandstätigkeiten gewinnen.

Arvid Harnack 1929 in Jena

Arvid Harnack arbeitet seit 1935 im Reichswirtschaftsministerium in Berlin, wo er 1942 zum Oberregierungsrat befördert wird. Seine Tätigkeit nutzt er auch für Widerstandsaktivitäten. Um unauffälliger gegen die NS-Diktatur kämpfen zu können, tritt er 1937 sogar der NSDAP bei.

Einladung zu Vortragsabenden von Mildred Harnack aus dem Jahr 1934

Schon seit ihrer Studienzeit ist Mildred Harnack schriftstellerisch tätig und hält auch in Deutschland Vorträge. Ab 1938 arbeitet sie als Lektorin und Übersetzerin. 1941 promoviert sie an der Universität Gießen und ist Sprachlehrbeauftragte an der Berliner Universität.

Die Rote
Kapelle

Ende der 1930er Jahre vermittelt das Ehepaar Kuckhoff den Kontakt zwischen Arvid Harnack und Harro Schulze-Boysen. Um den Offizier und seine Frau Libertas hat sich seit Mitte der dreißiger Jahre ein vielfältiger Kreis von NS-Gegnern gebildet. Gemeinsam mit Harro und Libertas Schulze-Boysen bilden Arvid und Mildred Harnack seit 1940/41 den Kern des Widerstandsnetzwerkes Rote Kapelle.

Das Foto zeigt Mildred und Arvid Harnack 1940 in Neubabelsberg.

Dem Netzwerk gehören mehr als 150 Männer und Frauen ganz unterschiedlicher sozialer Herkunft und weltanschaulicher Traditionen an. Das Video gibt einen Überblick über die Formierung der Roten Kapelle.

Die Formierung der Roten Kapelle

Das folgende Video über die Aktionen der Roten Kapelle zeigt, wie vielfältig die Formen ihres Kampfes gegen die nationalsozialistische Diktatur sind: Angehörige des Netzwerkes dokumentieren NS-Gewaltverbrechen, geben militärisch wichtige Informationen an die Sowjetunion weiter, helfen Verfolgten und verbreiten Flugblätter, Briefsendungen und Klebezettel.

Die Aktionen der Roten Kapelle

Im Sommer 1942 deckt die Gestapo die Widerstandskreise um Harnack und Schulze-Boysen auf und ermittelt gegen sie unter dem Sammelnamen „Rote Kapelle“. Mehr als 130 Mitglieder werden festgenommen, viele von ihnen zum Tode verurteilt und ermordet. Das Video schildert die Verfolgung der Roten Kapelle.

Die Verfolgung der Roten Kapelle

Festnahme, Haft
und Tod

Arvid und Mildred Harnack werden am 7. September 1942 während eines Urlaubs auf der Kurischen Nehrung festgenommen und nach Berlin gebracht.

Am 19. Dezember 1942 wird Arvid Harnack zusammen mit Harro und Libertas Schulze-Boysen und sieben weiteren Angehörigen der Roten Kapelle vom Reichskriegsgericht zum Tode verurteilt. Mildred Harnack erhält im selben Prozess zunächst eine Strafe von sechs Jahren Zuchthaus.

Nach der Urteilsverkündung informiert Arvid Harnacks Vetter Axel von Harnack die Familie mit diesem verschlüsselten Telegramm über den Prozessausgang. Der vorher vereinbarte Code lautet:

Buch = Arvid
Bild = Mildred
Nicht lieferbar = Todesurteil
Ziffern = Haftjahre

Hitler bestätigt bereits am 21. Dezember 1942 die Todesurteile und befiehlt für Arvid Harnack die sofortige Vollstreckung durch den Strang. Der Familie bleibt dadurch keine Gelegenheit mehr, ein Gnadengesuch einzureichen. Er wird kurz vor Weihnachten, am 22. Dezember 1942, in Berlin-Plötzensee gehängt.

„14.XII.1942

Am Weihnachtsabend werden wir um 7 in Gedanken gemeinsam feiern.

Mein inniggeliebtes Herz –

Wenn ich in den vergangenen Monaten die Kraft hatte, innerlich ruhig u. gefasst zu sein, und wenn ich den kommenden Dingen ruhig u. gefasst entgegensehe, so verdanke ich dies vor allem dem, dass ich mich mit dem Guten u. Schönen in dieser Welt verbunden fühle, u. dass ich das Gefühl, das aus dem Dichter Whitman singt, der ganzen Erde gegenüber habe. Soweit Menschen in Frage kommen, waren es die mir Nahestehenden und vor allem Du, die mir dieses beides verkörpern.

Trotz allem Schweren sehe ich auf mein bisheriges Leben gerne zurück. Das Leichte überwog das Dunkele. Und dafür war grossen Teils unsere Ehe der Grund. Ich habe mir in der letzten Nacht viele der schönen Augenblicke in unserer Ehe durch den Kopf gehen lassen, und je mehr ich darüber nachdachte, desto mehr wurden es. Es war, als ob ich in einen Sternenhimmel sah, bei dem ja auch die Zahl der Sterne ständig wächst, je genauer man hinsieht […].“

Am Tag vor dem Prozess schreibt Arvid Harnack einen Abschiedsbrief an seine Frau.

Die Gestapo macht diese Aufnahme von Mildred Harnack zu Beginn ihrer Haft 1942.

Hitler ordnet für sie und die ebenfalls zu einer Zuchthausstrafe verurteilte Erika von Brockdorff eine Neuverhandlung an. Mitte Januar 1943 werden beide zum Tode verurteilt.

Und ich habe Deutschland so geliebt

In der Haft übersetzt Mildred Harnack mehrere Gedichte von Goethe. Der Gefängnispfarrer Harald Poelchau rettet diesen Gedichtband mit Übersetzungen, an denen Mildred Harnack noch in den letzten Stunden ihres Lebens gearbeitet hat.

In der Gefängniszelle von Mildred Harnack wird später das Bild ihrer Mutter gefunden. Auf der Rückseite hat sie am Tag ihrer Hinrichtung notiert: „Dieses Gesicht war bei mir alle die Monate hindurch.“

„Mildreds letzte Stunden mit Pfarrer Poelchau.

Viel ist nicht zu erzählen. Pfarrer Poelchau besuchte Mildred sogleich nachdem das Reichssicherheitshauptamt die Vollstreckung des Todesurteils angeordnet hatte. Mildred war tapfer und bei klarem Bewusstsein, doch hatte sie schon fühlbar mit der äusseren Welt abgeschlossen. Einen festen Wall hatte Mildred um sich gezogen, um nicht schmerzempfindlich zu werden. Aus diesem Grunde schaltete sie alle gefühlsbetonten Dinge, wie eigenes Erleben, Verwandtschaft, bewusst aus. Nur das Bild der Mutter änderte für kurze Augenblicke die Haltung; es war eine innige, stumme Zwiesprache und erlösende Tränen traten in die Augen. Sie küsste das Bild wieder und wieder; doch war sie dann ruhig. [...]

Die Wärme und Herzlichkeit des Pfarrers wurde wohltuend von Mildred empfunden und der menschlich warme Händedruck angenommen. Mildred ging frei zum Executionsraum, an beiden Seiten von Wärtern begleitet. Fast 1 ½ Stunden währte der Besuch des Pfarrers.

Mildred äusserte als ihr die Stunde der Hinrichtung mitgeteilt wurde: 'Und ich habe Deutschland so geliebt'.“

Die Zeit unmittelbar vor der Hinrichtung verbringt Mildred Harnack mit dem Gefängnispfarrer Harald Poelchau. Sein Bericht an die Familie endet mit den Worten: „Mildred äusserte als ihr die Stunde der Hinrichtung mitgeteilt wurde: „Und ich habe Deutschland so geliebt.“

Am 16. Februar 1943 um 18.57 Uhr wird Mildred Harnack in der Hinrichtungsstätte Berlin-Plötzensee enthauptet. Sie ist die einzige amerikanische Staatsangehörige, die von den Nationalsozialisten hingerichtet wird.

Insgesamt fallen 30 Männer und 19 Frauen der Roten Kapelle der nationalsozialistischen Unrechtsjustiz zum Opfer.